Interview mit Prof. Martina Hasseler: „Pflegefachberufe werden nie als elementarer Teil der Gesundheitsversorgung verstanden“

29.07.2022, medhochzwei
Pflege, Politik & Wirtschaft, Interviews & Kommentare

Prof. Dr. rer. medic. habil. Martina Hasseler
 

medhochzwei: Prof. Hasseler, der Deutscher Pflegerat hat jetzt für alle seine Mitgliedsverbände einen Runden Tisch zum Community Health Nursing eingerichtet und ein gemeinsames Positionspapier zum Thema veröffentlicht – vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung kam postwendend scharfe Kritik. Ist diese gerechtfertigt?

Prof. Martina Hasseler: Diese Kritik ist natürlich nicht gerechtfertigt. Aber wir können an dieser postwendenden Kritik mehrere Aspekte erkennen: 1. Die kassenärztliche Vereinigung hat den Scope of Practice der Community Health Nurse nicht verstanden. 2. Die kassenärztliche Vereinigung versteht Gesundheitsversorgung nicht als eine interdisziplinäre Gesundheitsversorgung in wohnortnahen Bereichen. 3. Die kassenärztliche Vereinigung erkennt nicht, dass die Bedarfe der Bevölkerung nicht nur in der medizinischen Diagnostik und Therapie liegen, sondern auch in der Prävention, Gesundheitsförderung, Beratung, systematischen Screenings, Anleitung und vor allen in zugehenden Ansätzen mit einer umfassenden Gesundheitsversorgung für die ganze Familie. 

mhz: Der Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung sieht ja vor, das Berufsbild der Community Health Nurse in Deutschland flächendeckend einzuführen. Wie sehen Sie die Chancen dafür?

Hasseler: Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Implementierung der Community Health Nurse an den Strukturen unseres Systems scheitern wird. Die Community Health Nurse als Berufsbild in wohnortnahen Bereichen einzuführen bedeutet, dass der Arztvorbehalt und die Delegation und die Substitution reformiert werden müssen. Wir müssen ein Scope of Practice für die Community Health Nurses definieren, d.h., einen gesetzlich definierten Bereich, in dem sie autonom und selbständig agieren dürfen. Eine weitere Frage wird sein, wie denn die Leistungen der Community Health Nurse finanziert werden. In den Ländern, in denen sie erfolgreich eingesetzt ist, haben wir es oft mit Public-Health-orientierten Gesundheitssystemen zu tun, die oft auch steuerfinanziert sind. Deutschland hat aber ein Gesundheitssystem, das nach Sozialgesetzbüchern strukturiert und finanziert ist. In Deutschland stellt sich also die Frage, werden die Kommunen Community Health Nurses beschäftigen, was wegen des beruflichen Ansatzes und der Ziele der Community Health Nurses angemessen wäre? Das sehe ich aber nicht, weil die Kommunen keine Möglichkeiten haben, diese zu finanzieren. Des Weiteren müssen sich die Kommunen fragen, welche Vorteile sie denn von einer Community Health Nurse haben? Um Krankenkassen oder Pflegekassen von den Kosten zu entlasten? Bisher waren die Kommunen mäßig begeistert, wenn sie Kosten für Personal aufbringen sollten, um vermeintlich die Kranken- und Pflegekassen zu entlasten. Die Pflegeversicherung ist das schlechteste Sozialgesetzbuch für die Finanzierung einer Community Health Nurse und ich warne eindringlich davor, sie im Rahmen einer Reform der Pflegeversicherung die Community Health Nurse einzuführen. Also bleibt im Moment nur das SGB V, um die Community Health Nurses gesetzlich einzuführen und zu finanzieren. Hier kommt aber dann wieder die kassenärztliche Vereinigung ins Spiel und die Frage, aus welchem Topf diese denn finanziert werden. Denn klar ist: Der finanzielle Kuchen wird nicht größer und die Kosten für die Community Health Nurses müssen finanziert werden. 

Aufgrund der Pandemie- und Kriegsfolgen sehe ich nicht, dass in dieser Legislaturperiode die Kraft der Parteien so groß ist, gegen die Widerstände strukturell gut verankerter Selbstverwaltungsorgane die Community Health Nurse mit all den Fragen zur Substitution, Finanzierung und Integration in das Gesundheitssystem anzugehen. Aber: eine Community Health Nurse light benötigen wir nicht!

mhz: Was wären die Vorteile bei einer flächendeckenden Verfügbarkeit von Community Health Nurses gegenüber den vom Zi angeführten nichtärztlichen Praxisassistentinnen und -assistenten (NÄPAs) bzw- Versorgungsassistentinnen  und -assistenten in der Hausarztpraxis (VERAHs)?

Hasseler: Die Community Health Nurses arbeiten selbständig mit einen zugehenden und präventiven sowie gesundheitsförderlichen Ansatz und haben die Kompetenzen, die Bedarfe und Bedürfnisse von Bevölkerungsgruppen und von Individuen zu erfassen. Sie führen Assessments durch, stellen Bedarfe in Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung fest, planen, organisieren koordinieren die Gesundheitsversorgung, führen diese gemeinsam mit anderen Berufsgruppen durch und evaluieren die Gesundheitsversorgung. Sie beraten und informieren die Menschen, sind für Präventionsgrogramme wie bspw. Impfprogramme, Diabetesberatung, Screening-Programme u.w.m. zuständig. Aufgrund des wohnortorientierten Ansatzes entdecken sie sehr frühzeitig die Bedarfe der Menschen und können frühzeitig mit Rezeptierungen, Überweisungen, Anleitung, Beratung etc. reagieren. Der Unterschied zu den Praxisassistenten*innen bzw. Versorgungsassistenten*innen wird damit deutlich: sie arbeiten selbständiger, mit einem sehr viel höheren Anteil von Autonomie und vor allen Dingen mit einem deutlicheren Fokus auf Gesundheit und Gesunderhaltung. Es steht nämlich nicht nur die medizinische Diagnose im Vordergrund, sondern vor allem, wie man die Menschen im häuslichen Bereich gesund erhalten, Krankheit und Pflegebedürftigkeit verhindern bzw. möglichst im Eintritt nach hinten verschieben kann.

mhz: Wie stehen Ihrer Ansicht nach die Chancen, dass die vom Pflegerat angeführte Ausweitung der Kompetenzbereiche der Pflegefachpersonen und der Möglichkeiten für deren eigenverantwortliches Handeln in dieser Legislaturperiode kommen?

Hasseler: Ich bin nicht sehr optimistisch. Wir sehen ja, die kassenärztlichen Vereinigungen, auch einiger Bundesländer, haben sofort Gegenpositionen entworfen. Die strukturellen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen in Deutschland sprechen gegen diese Umsetzung. Ich gehe auch nicht davon aus, dass der politische Wille vorhanden ist, gegen diese Widerstände ein neues, wenn auch absolut wichtiges Berufsbild für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe Gesundheitsversorgung einzuführen. Die Strukturen mit ihren Selbstverwaltungsorganen sind sehr wirkmächtig und die Pflegefachberufe gehören nicht zu den strukturell verankerten Gesundheitsberufen, die mitentscheiden dürfen. Ich gehe auch davon aus, dass den meisten Entscheidungsträgern weder das Berufsbild der Community Health Nurse noch der Mehrwert für die Gesundheitsversorgung gekannt ist. Leider haben wir es in Deutschland mit einem sehr veralteten Berufsbild der Pflegefachberufe zu tun und leider werden in diesem Land die Pflegefachberufe mit der Pflegeversicherung verwechselt. Pflegefachberufe werden nie als elementarer Teil der Gesundheitsversorgung verstanden. 

mhz: Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zum Community Health Nursing, den Plänen des DPR und der Kritik des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung hier im Hintergrund des medhochzwei-Newsletters 14/2022. Den vollständigen Newsletter finden Sie hier.

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