WeCare4Us-Studie: Wie sieht der Pflegeberuf in zehn Jahren aus?

21.09.2022, Sven C. Preusker
Pflege, Politik & Wirtschaft

Der Frage, wie Mitarbeitende in den Pflegeberufen ihre eigene Zukunft und die Zukunft der Pflegeberufe einschätzen, ist eine jetzt veröffentlichte Studie mit dem Titel „WeCare4Us“ nachgegangen. Im Auftrag der Stiftung Universitätsmedizin Essen haben dafür die opta data Zukunfts-Stiftung und das Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement (IZZ) der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien 2021 und 2022 rund 200 Pflegekräfte des Universitätsklinikums Essen interviewt.

Die Ergebnisse sind eindrücklich, aber nicht überraschend: über 70 Prozent der Befragten gehen von einer eher negativen Entwicklung der Allgemeinsituation im Pflegebereich in den nächsten fünf Jahren aus, 87,4 Prozent gehen von eher zunehmenden Belastungen aus. Viele, vor allem junge Pflegerinnen und Pfleger, würden ihre persönliche Zukunft eher in einer Teilzeitstelle oder am Schreibtisch sehen, heißt es in der Studie. Die Erfahrenen unter ihnen würden sich auf den baldigen Renteneintritt freuen. Andere wüssen nicht, wie sie die weitere Belastung körperlich und psychisch aushalten sollen.

Dabei schauen die Befragten laut der Autoren mit Wehmut auf ihr eigenes Berufsbild. Während die Gesellschaft bei „Pflege“ an Bettpfannen denke, würden die Pflegerinnen und Pfleger um die Abwertung der stationären Pflege trauern. Sie wüssten, dass es nirgends sonst heute noch eine Beschäftigung gebe, bei der Menschlichkeit und Empathie auf medizinisches Fachwissen, Verantwortung und Spezialisierungsmöglichkeiten treffen würden. Für den händeringend gesuchten Nachwuchs sei diese Balance eigentlich hochinteressant. Die stationäre Pflege könnte und müsste in Zukunft ein Traumberuf für eine junge Generation sein, die nach sinnstiftenden Berufungen mit einem abwechslungsreichen Alltag sucht.

27 Prozent der Befragten sehen Empathie und Menschlichkeit als wichtigste Skills für den Nachwuchs, 23 Prozent nennen „Belastbarkeit“ als eine essenzielle Fähigkeit für den Nachwuchs. Und 21 Prozent geben an, in Zukunft auf mehr Wertschätzung und Anerkennung für ihren Beruf zu hoffen. Statt ihren Beruf zu genießen, würden es die Pflegekräfte es selbst kaum aushalten, schreiben die Studienautoren. Die Befragten seien an ihrer Schmerzgrenze angelangt, würden mit Schuldgefühlen gegenüber den Patienten kämpfen, über Rückenschmerzen und Burnout klagen. 30 Prozent sehen die durch die Schichtdienste unplanbare Freizeit und absehbare Ausfälle als untragbar an.

Mehr Zeit

Der größte Wunsch der Befragten sei, mehr Zeit für die eigentliche Pflege zu haben, so die Autoren. Bei der Frage, wie ihr Beruf in Zukunft aussehen soll, spreche fast die Hälfte aller Befragten von mehr Zeit für Patienten und Angehörige. Die Rettung der Pflege bedeute für die meisten Pflegekräfte eine Rettung der Menschlichkeit, denn die sei unter anderem durch den Zeitdruck des täglich spürbareren Fachkräftemangels gefährdeter denn je. Zwischen der Dokumentation der Arbeitsschritte am Computer und den immer komplexeren Therapiemethoden bleibe kaum Zeit für ein persönliches Gespräch, geschweige denn für regelmäßige Teammeetings und die Einarbeitung des Nachwuchses. Innovationen, Ausbildungsformate und neue Gesetze seien erst dann eine Erleichterung, wenn sie den Pflegerinnen und Pflegern am Ende tatsächlich helfen, Zeit einzusparen. Jede zusätzliche Nebentätigkeit, jeder unnötige Mausklick und jede fehlende Kompetenz würden am Ende kostbare Zeit rauben. Die meisten Maßnahmen für die Unterstützung der Klinikpflege hätten bisher leider oft das Gegenteil bewirkt.

Grundsätzlich sehen viele der Befragten das Potenzial der Digitalisierung, irgendwann würden die Pflegekräfte so sicherlich bei ihrer Arbeit und dem bürokratischen Dokumentationsaufwand entlastet werden. Aber noch herrsche Chaos und Überforderung durch neue Technologien. Und für eine „Trial and Error“-Phase gebe es in der Pflege einfach keine Zeit. 36 Prozent erwarten in Zukunft Überforderung und mehr Zeitaufwand durch zu komplexe Software und langesame Geräte.

Scharfe Kritik übten die Befragten auch an der neuen Pflege-Ausbildung, bei der angehende Pflegerinnen und Pfleger sich erst spät in den verschiedenen Fachbereiche spezialisieren würden. Nach Angaben der Befragten kommen immer mehr junge Pflegerinnen und Pfleger ohne nötige Fachkompetenzen auf den Stationen an. Damit werde der Nachwuchs zu einer Doppelbelastung und verliere selbst an Motivation unter den harten Bedingungen den Beruf weiterzuführen. Anstatt voneinander zu lernen, entstünden durch beidseitigen Frust zunehmend Missverständnisse und Reibungen zwischen Jung und Alt. 21 Prozent geben bei der Frage nach Belastungsgrenzen die unzureichenden Fachkenntnisse des Nachwuchses durch die aktuelle Ausbildung an.

Für 21 Prozent der Befragten ist die Fluktuation in ihren Teams, unter anderem durch den Einsatz von Zeitarbeitskräften, kaum erträglich. Ein gut harmonierendes Stammteam sei für die meisten die einzige Möglichkeit, den Stress zu bewältigen. Generell hoffen mehr als die Hälfte auf ein routinierteres Zusammenarbeiten und offene Kommunikation zwischen allen Berufsgruppen und Fachbereichen.

Viele konkrete Vorschläge

Die Anwendung digitaler Innovationen, neuer Ausbildungswege und flexibler Springerinnen und Springer für die Erleichterung der Arbeit auf den Krankenhausstationen ist aus Sicht der Befragten keine langfristige Lösung. Dennoch sehen fast 30 Prozent die Entwicklung der Pflege in Zukunft durchaus positiv. Sie begrüßen, dass momentan überhaupt eine Diskussion um die Pflegeproblematik geführt wird. 39 Prozent der Befragten hatten in den Interviews konkrete Vorschläge, wie Digitalisierung, Arbeitsprozesse und Zusammenarbeit besser gestaltet werden könnten. Ohne eine Einbindung der Pflegekräfte in die Entscheidungsprozesse zu ihrer eigenen Zukunft würden vielversprechende Ideen verlorengehen, mahnen die Autoren. Und dieser Innovationsreichtum nahm mit dem Alter der Befragten sogar zu. Das „gesunde Halbwissen“ zu Digitalthemen und die langjährige Erfahrung der Pflegekräfte würden sich als goldene Mischung für die Entwicklung innovativer Lösungen erweisen, so die Autoren.

Eine wünschenswerte Zukunft der stationären Pflege in Deutschland existiere nur, wenn sich jetzt nachhaltig etwas ändere, schreiben die Autoren. Die inakzeptablen Arbeitsbedingungen in der stationären Pflege würden sich gegenseitig wie ein dichtes Netz aus unerfüllten Bedürfnissen und unausgereiften Lösungen bedingen. Durch das fehlende Personal habe sich zusätzlich eine „Teufelsspirale“ entwickelt. Fehlende Fachkräfte und zu wenig Auszubildende würden stressgeladene Arbeitsbedingungen kreieren, die für den Nachwuchs erst recht unattraktiv sind. Um sie zu durchbrechen, brauche es neben den geplanten Entlastungen ein langfristiges Transformationsziel. Wie sieht ein Pflegeberuf aus, der für kommende Generationen interessant ist?

Studienleiter Prof. Dr. Thomas Druyen, Direktor des IZZ und Präsident der opta data Zukunfts-Stiftung: „Es wäre naiv zu übersehen, dass die längst bekannten Phänomene dieses Pflegedesasters politische und ökonomische Ursachen haben. Das Schicksal von Pflegenden und Gepflegten wird auf dem Krankenhausmarkt und in der Gesundheitsindustrie spekulativ zerrieben. Vor diesem Hintergrund ist es ein Wunder, mit welcher Hingabe sich die meisten Pflegekräfte ihren existentiellen Aufgaben widmen. Das eigentliche Drama steckt in jenem Wertedefizit, das eine Gesellschaft aufweist, wenn sie den Dienst am Menschen nicht belohnt, sondern bestraft.“

Auf einen Schlag werde niemand den Fachkräftemangel lösen können. Das mache die Zukunft der Pflege aber nicht aussichtslos. Die Pflegekräfte würden über die Hürden aus Politik und Wirtschaft hinweg von einem modernen Pflegeberuf träumen, der seine Potentiale entfalte und dafür entsprechend geschätzt werde. In der Klinikpflege würden Innovative Forschung, smarte Technologien und stetig wachsende Spezialisierungsmöglichkeiten auf gesellschaftliche Verantwortung, Fürsorge und Teamarbeit treffen. Die stationäre Pflege sei eine komplexe und anspruchsvolle Profession, die unter den chaotischen Arbeitsbedingungen erstickt. Klarheit, Stabilität und Differenzierung seien essenzielle Leitplanken, um die Ressourcen der Pflege freizusetzen.

In ihren zukunftsweisenden Antworten würden die Pflegekräfte aktuelle Probleme durch Forderungen nach attraktiven Karrierewegen und Ausbildungen für den Nachwuchs, Fachbereich gerechten Technologien, empathischen Weiterbildungen, berufsgruppenweiten Workshops und psychosomatischen Gesundheitsprogrammen für Pflegekräfte ersetzen. Wie diese Schritte im Detail aussehen sollen, wissen die Pflegekräfte durch ihre täglichen Erfahrungen genau, schreiben die Autoren. 

Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 18-2022. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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