Blinde Flecken in der historischen Sozialpolitikforschung – Plädoyer für eine Erforschung korporativistischer Strukturen im Gesundheitswesen

19.06.2024, Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl
Politik & Wirtschaft, Krankenversicherung

Zur Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats in Deutschland liegt eine kaum noch zu überschauende Vielzahl von geschichtswissenschaftlichen Studien vor. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indessen, dass die klassische Sozialgeschichte, wie sie sich in Deutschland seit den 1960er Jahren etabliert hat, einen verengten Blickwinkel hatte, der den Fokus vor allem auf den Staat richtete. Gerade auch die historische Forschung zur Gesundheitspolitik folgt bis heute dieser etatistischen Perspektive, so dass der hybride Charakter des deutschen Gesundheitssystems nicht recht zur Geltung kommt.

Zwar werden die Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheitswesens vom Staat vorgegeben, von der Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gesetzt, zugleich aber überträgt der Staat wichtige Regelungskompetenzen an korporative Zusammenschlüsse der zentralen Akteursgruppen im Gesundheitswesen – hier zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten sogar ein Trend zu fortschreitender „Korporatisierung“ ab -, während die Politik andererseits bestrebt ist, dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte auch im Gesundheitswesen mehr Raum zu geben.

Der Bereich der „mittelbaren Staatsverwaltung“ – die Krankenkassen und ihre Spitzenverbände, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Krankenhausgesellschaften, der von ihnen gestellte Gemeinsame Bundesausschuss als zentrale Instanz zur Definition der im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung angebotenen medizinischen Leistungen, die Ärzte- und Apothekerkammern, dazu die freien Verbände der verschiedenen Interessengruppen – all dies stellt ein lohnendes Forschungsfeld auch für die Geschichtswissenschaft dar.

Dabei sollten Historiker und Historikerinnen den Mut haben, die Forschungen in diesem Bereich bis in die unmittelbare Gegenwart voranzutreiben, weil auch im Bereich der Gesundheitspolitik die letzten drei Jahrzehnte von weitreichenden und tiefgreifenden Veränderungen geprägt waren. Die Geschichte der DAK-Gesundheit, die in diesem Jahr – unter Berufung auf die Gründung des „Instituts zum Besten hülfsbedürftiger Handlungs-Diener“ in Breslau im Jahre 1774 – ihr 250jähriges Bestehen feiert, belegt dies eindrucksvoll. Sie hat sich seit dem Ende der 1990er Jahre gleichsam neu erfunden. Die rasanten Veränderungsprozesse, die am Beispiel dieser einen Krankenkasse sichtbar werden, nachzuzeichnen, in größere Zusammenhänge einzuordnen, langfristige Entwicklungslinien herauszuarbeiten – das ist eine Herausforderung, der sich die historische Sozialpolitikforschung stellen sollte.

Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und ist Co-Autor des Werkes "Solidarisch. Sozial. Nachhaltig. 250 Jahre DAK-Gesundheit"

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 11-2024. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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